Pflanze des Monats: Brutblatt, ein Evolutionswunder mit großem pharmazeutischem Potenzial

  • Das Brutblatt ist eine echte Zuchtmaschine – aus purer Notwendigkeit heraus. Irgendwann im Laufe seiner Evolution hat es die Fähigkeit verloren, Samen zu produzieren, sodass seine Fortpflanzung fortan hauptsächlich seinen Blättern oblag.
  • Wenn die Pflanze reift, entwickeln sich an den Rändern ihrer Blätter löffelförmige Brutknospen, von denen jede ein Klon der Mutterpflanze in Miniaturformat ist.
  • Die in den Pflanzen enthaltenen Wirkstoffe könnten sich vielleicht im Kampf gegen Krebs als wichtig erweisen, doch man weiß auch, dass ihre Nutzung nicht frei von Risiken ist.

Im Süden von Madagaskar müssen sich die Pflanzen anpassen, um wachsen zu können, denn nur ganz besondere Pflanzen kommen mit dem extrem trockenen und heißen Klima klar. Eine von ihnen ist die volkstümlich als „Brutblatt" bezeichnete Sukkulente (von lat. suculentus, „saftreich") Kalanchoe daigremontiana, von der noch nicht ganz klar ist, ob sie der Sektion Kalanchoe oder Bryophyllum zuzuordnen ist. Letztere hat ihren Namen von bryo (wachsen, sprießen) sowie phyllum (Blatt), d. h. den kleinen Pflänzchen, die an den Blatträndern herauswachsen und das Charakteristikum der Sektion darstellen. Wenn diese auf den Boden fallen und Wurzeln bilden, entstehen neue Pflanzen, die sich endlos weiterverbreiten können.

Wissenschaftlich beschrieben wurde die Pflanze erstmalig 1914 von den französischen Botanikern Raymond-Hamet und Perrier de la Bâthie. Diese widmeten das Epipheton der Art dem Ehepaar Monsieur und Madame Daigremont, zwei Pflanzensammlern und Mitgliedern der Botanischen Gesellschaft Frankreichs.

Das Brutblatt wächst hauptsächlich in der Regenzeit, die im Süden von Madagaskar sehr kurz ist, nur ein paar Monate lang. Unter guten Bedingungen kann es bis zu eineinhalb Meter hoch werden. Es hat dicke, dreieckige, spitz zulaufende grüne Blätter im oberen und lilafarbene im unteren Pflanzenteil, die ihm als Wasserspeicher dienen. Wenn die Trockenzeit beginnt, zehrt das Brutblatt von diesem Wasservorrat und kann deshalb monatelang ohne Bewässerung überleben.

Ungewöhnliche Fortpflanzungstaktiken

Die Ränder der Blätter sind voller kleiner Kerben, die eine ganz besondere Funktion besitzen: In ihnen bilden sich unzählige Brutknopsen. Diese kleinen „Ableger" fallen bei geringsten Berührungen zu Boden und entwickeln sich dort direkt zu neuen Pflanzen. So kann sich das Brutblatt selbst in Jahren vermehren, wo es wenig oder nicht regnet.

Die erwachsenen Pflanzen können auch seitliche Wurzeln am Hauptstiel ausbilden. Dies hat folgenden Hintergrund: Die Blätter entwickeln sich eher am oberen Teil des Stängels und werden z. T. sehr schwer, sodass dieser sich nach unten biegt. Wenn er dann wieder angewurzelt ist, können sich neue Hauptstiele bilden, aus denen sich eigene Pflanzen entwickeln.

Da sie sich so leicht vermehrt, ist die Kalanchoe daigremontiana außerhalb von Madagaskar bei Hobbygärtnern als Zimmerpflanze sehr beliebt und dank der Hybridisierung mittlerweile in einer Vielzahl von Formen und Farben erhältlich. Im Freien hingegen ist sie eher ein Problemfaktor, denn sie erschwert die Wiederansiedlung von einheimischen Pflanzen und verändert die Bodenbiologie in semi-ariden Gebieten, weshalb sie in den Wüstenzonen von Ländern wie Südafrika oder Australien sogar als invasive Art klassifiziert wird.

Andere botanische Vorteile

In üppigen Regenzeiten kann die Kalanchoe daigremontiana ausnahmsweise sogar sporadisch blühen, wozu es jedoch auch nie kommen kann. Dann wächst ein langer Stiel aus der Pflanzenmitte heraus, an dem sich wie ein Regenschirm eine Vielzahl von wunderschönen, glockenförmigen, nach unten hängenden rosafarbenen oder roten Blüten öffnen. Wenn die Pflanze bestäubt wurde, bekommt sie vier kleine Früchte pro Blüte. Diese enthalten kaum einen Millimeter große Samen. Wenn sie zu Boden fallen und sich durch das Regenwasser zersetzen, werden die Samen verteilt und eine neue Pflanze wächst dort, wo sie keimen.

Um trotz der widrigen Bedingungen Photosynthese betreiben zu können, hat das Brutblatt eine besondere Strategie entwickelt: Während die meisten Pflanzen tagsüber Kohlendioxid absorbieren und fixieren, nutzt diese Kalanchoenart die sogenannte CAM-Photoynthese (Crassulaceen-Säurestoffwechsel), bei der hauptsächlich nachts CO2 aufgenommen, eingelagert und dann tagsüber zersetzt und Sauerstoff in die Luft abgegeben wird.

Durch diese zwischenzeitliche Einlagerung sinkt der pH-Wert der Blätter nachts in den sauren Bereich ab und steigt erst tagsüber wieder. Der CAM-Mechanismus hat den Vorteil, dass die Pflanzen während der heißesten Stunden ihre Stomata geschlossen halten können, was den Wasserverlust durch Transpiration stark reduziert.

Medizinische Anwendungen des Brutblatts

In Madagascar werden traditionelle Heilpflanzen aufgrund des Mangels an moderner Medizin immer noch viel verwendet, insbesondere im Süden. Das Brutblatt gilt – ziemlich passenderweise angesichts seines Namens – als Heilpflanze gegen Frühgeburten bei schwangeren Frauen und gegen Unfruchtbarkeit.

Das Spektrum seiner heilenden Eigenschaften ist jedoch noch viel breiter, denn es wird traditionell u. a. auch gegen Rheuma, Entzündungen, Bluthochdruck, Nierenkoliken, Durchfall, tiefe Verletzungen, Infektionen, Verbrennungen und Abszesse eingesetzt.

Eine seiner wissenschaftlich hochinteressanten Verbindungen sind die sogenannten Bufadienolide, deren Name sich davon ableitet, dass sie erstmalig bei der Gattung der Echten Kröten (Bufo) identifiziert wurden. Manche Bufadienolide haben sowohl in In-vitro- als auch bei In-vivo-Experimenten antitumorale Eigenschaften unter Beweis gestellt. In-vivo-Studien gibt es jedoch bislang nur mit Mäusen.

Trotz dieses hoffnungsvollen Befunds sind die medizinischen Eigenschaften des Brutblatts mit Vorsicht zu genießen: Seine Nutzung ist nicht ganz risikofrei, denn zu den fünf bekannten Bufadienoliden von Kalanchoe daigremontiana zählt auch das toxische Steroid Daigremontianin. Wie viel von diesem „Gift" die Blätter enthalten, ist von Pflanze zu Pflanze unterschiedlich und hängt vom Standort, dem verfügbaren Wasser, dem Einzelexemplar und der Jahreszeit ab. Daigremontianin in zu hoher Konzentration kann Herz- und Niereninsuffizienz verursachen, und sein dauerhafter Konsum kann auch bei niedriger Dosierung zu chronischen Vergiftungen führen.

Das Brutblatt eröffnet also vielversprechende Perspektiven für die wissenschaftliche und pharmazeutische Forschung, die eines Tages vielleicht neue Behandlungen für Krankheiten wie Krebs ermöglichen werden, bislang ist die Nutzung der Pflanze aufgrund ihrer Giftigkeit jedoch noch nicht ratsam.

04/08/2020

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